
Sonntag
Nach dem Frühstück in der Unterkunft machen wir uns auf dem Weg Richtung Valldemossa. Dieses kleine Bergdorf liegt im Nordwesten der Insel, im Gebirge Serra di Tramuntana. Die Fahrt quer durch die Insel ist von Grün umgeben. Nach über einer Stunde erreichen wir das Dorf Valldemossa und parkieren unser kleines Auto auf einem steilen Hang. Hand in Hand laufen wir durch die schmalen Gassen. Die Häuser sind hier mit bunten Blumen und grünen Pflanzen verziert. Das verleiht dem kleinen Dorf eine charmante und romantische Atmosphäre. Wir betreten den botanischen Garten und ich halte überall an, um Fotos von der mallorquinischen Pflanzenwelt zu machen: orange Strelitzien, gelbes Johanniskraut oder violetter Pfefferbaum, es hat von allem genug. Wir betreten einen Souvenir-Shop nach dem anderen. Ich habe Patrizia versprochen, ihr eine Postkarte zu schreiben, und möchte ihr von diesem wunderschönen Ort eine Karte schicken. »Ich glaube diese Karte gefällt mir besser als diese hier.« Ich zeige ihm die Karte mit der blauen Schrift. Elios schüttelt lachend den Kopf. »Die sehen beide genau gleich aus.« Ich schaue mich um und kaufe eine Tasse für meine Mutter und ein Magnet für meine Sammlung. Elios hält zwei Magnete in seiner Hand. »Sind diese für deine Geschwister?«, frage ich und schaue mir die Fussketten aus Muscheln an. »Nein, für Lambros und mich.« »Willst du nichts für deine Schwester mitbringen? Wie heisst sie nochmal… Xenia! Schau, vielleicht könnt ihr diese Kette gefallen? Mag sie solche Dinge?« Ich deute auf die Fusskette in meiner Hand. Elios schaut mich mit einem merkwürdigen Blick an und wendet sich schliesslich ab. »Sie mag solche Sachen nicht.«
Vor lauter Einkaufs-Entscheidungen haben wir allmählich Hunger bekommen. Eine kleine Tapas-Bar lädt uns zum Essen ein. Wir lassen uns eine spanische Omelette schmecken und dazu noch Datteln im Speckmantel. Elios hat sich in diese Tapas verliebt. »Buen aprovecho«, sage ich. »Was?« Elios sieht mich fragend an. »Guten Apetit. Auf Spanisch«, sage ich schmunzelnd. »Achso. Buen aprovecho«, sagt Elios und ich bin überrascht über seine Aussprache. Wir haben noch knapp zwei Tage auf der Insel und für morgen steht eine Weinverkostung an. Ich habe Elios gefragt, ob er wirklich interessiert ist, daran teilzunehmen. Ich würde verstehen, wenn er es nicht wäre. Patrizia und ich teilen unsere Liebe zum Wein. Doch Elios hat dem zugestimmt. Die Weinverkostung findet auf der nördlichen Seite der Insel statt, in Alcudia. Ich habe viel von dieser Stadt gelesen, und bin gespannt morgen dorthin zu fahren. »Wann geht dein Flug am Dienstag?«, fragt mich Elios. Gute Frage. Ich möchte noch gar nicht an unsere Abreise denken. Ich nehme mein Handy hervor und suche die Mail mit den Flugdaten.
»Am Mittag, um 11:45 Uhr. Und deiner?« »Meiner ist um 15:30 Uhr. Da es keine Direktflüge nach Zakynthos gibt, fliege ich nach Athen und von dort nehme ich dann die Fähre.« Mir war gar nicht bewusst, welche Reise er auf sich nimmt, nur damit wir uns sehen können. Mein Herz füllt sich mit Wärme und ich hauche ihm einen Kuss auf seine Wange. Nachdem wir gegessen haben, verlassen wir das idyllische Bergdorf Valldemossa und machen uns auf dem Weg Richtung Palma. Nach zwanzig Minuten Autofahrt erreichen wir die grosse Stadt und parkieren in einem Parkhaus. Hier ist schon mehr los auf den Strassen, doch Elios hat das Fahren gut im Griff. Bei meinem Kundenmeeting habe ich nicht viel von Palma gesehen, weshalb ich gespannt bin, was die Stadt zu bieten hat. Patrizia und ich haben ein paar Sehenswürdigkeiten aufgeschrieben, welche wir besichtigen wollten. Elios ist von den Ideen immer sehr begeistert und genauso offen, die Ortschaft zu entdecken wie ich. Wir besuchen die Markthalle Mercado del Olivar, das Schloss Castell de Bellver und den Königspalast La Almudaina. Es ist warm heute und die Hitze macht so einen Städtetrip noch anstrengender. Erschöpft lassen wir uns in eines der Cafés in der Stadt setzen und bestellen uns gleich zwei Sangria. »Muchas gracias«, erwidere ich dem Kellner, als er mit zwei dunkelrote, bis oben gefüllte Gläser auf uns zukommt. Wir schauen uns die Fotos an, die wir voneinander oder gemeinsam gemacht haben. Erinnerungen fürs Leben, die wir gemeinsam gesammelt haben. Elios legt seinen Arm um meine Schulter. »Hast du eigentlich schon Pläne für deinen Geburtstag?« Elios sieht mich fragend an. Diese Frage überrascht mich, ich hätte nicht gedacht, dass er daran denken würde. »Nein. Ich plane meinen Geburtstag nicht gerne. Aber so wie ich Patrizia kenne, wird sie bestimmt etwas organisieren. Sie ist der Meinung, dass jeder Geburtstag besonders ist, und deshalb gefeiert werden muss. Im Winter hat man in Zürich nicht sehr viele Optionen, aber ihr fällt bestimmt etwas ein.« »Ich würde gerne mal im Winter in die Schweiz kommen«, sagt er lächelnd. »Dann komm doch! Dann kann ich dir zeigen, wo es den besten Glühwein gibt! Der schmeckt ähnlich wie dieser Sangria, nur viel wärmer.« Ich deute auf das Glas in seiner Hand. »Der schmeckt bestimmt sehr lecker. Und was gibt es sonst noch im Winter bei euch?« »Oh. Mein. Gott. Du musst unbedingt Raclette und Fondue essen. Bei uns wird immer darüber diskutiert, welches Käsegericht das bessere ist. Und die Weihnachtsbeleuchtung an der Bahnhofstrasse. Die ist so schön. Ausserdem gibt es noch so viel mehr. Also ja, du musst im Winter kommen!« Elios sieht mich lachend an. »Dann habe ich einen Grund mehr, wenn ich dich an deinem Geburtstag besuchen kann.« Ich stelle mir vor, wie wir Hand in Hand durch die Bahnhofstrasse laufen, während der Duft von heissen Marroni und Glühwein unsere Nase umspielen.
Wir befinden uns in der Nähe des Hafens und suchen ein Restaurant, um unseren knurrenden Magen zu stillen. Ich bin froh, dass Elios genauso hungrig ist wie ich. Wir finden ein Restaurant, welches Paella serviert. Elios hatte noch nie welche gehabt und ich wollte ihm das unbedingt zeigen. Wir folgen dem Kellner durch das kleine, mit dunklem Holz angerichtete Restaurant und setzen uns an einem kleinen Tisch auf dem Balkon. Eine leichte Brise lässt unser Haar tänzeln. Wir bestellen unser Essen und unsere Sangria. Elios ist bis jetzt überwältigt von der spanischen Kulinarik und ich hoffe, dass ich ihn mit einer traditionellen Paella genauso überzeugen kann. Ich erzähle ihm gerade, wie es Patrizia geht, als plötzlich sein Telefon klingelt. Elios’ Miene verfinstert sich. Er entschuldigt sich, greift nach seinem Handy und verlässt das Restaurant. Wer kann das bloss sein? Ungeduldig warte ich auf das Essen, und noch ungeduldiger auf Elios. Das Essen wird uns serviert, doch von Elios fehlt jede Spur. Ich schaue auf mein Handy: Zwanzig Minuten sind vergangen. Ich lasse das Essen kalt werden und schaue hoch zum Himmel. Die Sonne steht schon tief am Horizont, schon bald wird es dunkel werden. Ich versuche mich auf andere Dinge zu konzentrieren, doch meine Gedanken sind immer bei Elios und bei seinem Telefonat. Ist etwas im Geschäft passiert? Oder mit Dimitrios? Ich möchte ihm versichern, dass, was immer es auch ist, er mit mir über alles reden kann. »Sorry.« Elios Stimme reisst mich aus meinen Gedanken. Er nimmt wieder auf seinem Stuhl platz und streift sich eine Locke hinters Ohr. »Ist alles in Ordnung?« frage ich unsicher. Warum ist er nur so aufgewühlt? Wer war am Telefon? Elios meidet meinen Blick und beginnt zu essen. Ich mache das gleiche. Auf meine Frage bekomme ich keine Antwort. »Ist etwas bei euch im Geschäft vorgefallen?«, frage ich vorsichtig. Elios schaut mich mit einem ernsten Blick an. Seine Augen sind gerötet und auf seiner Stirn bilden sich tiefe Falten. »Ich… ich weiss nicht, wo ich anfangen soll«, beichtet mir Elios aufgebracht. Damit beschleunigt er meinen Herzschlag. Ich ignoriere den faden Geschmack von kaltem Fisch und Reis in meinem Mund und schaue Elios besorgt an. Was muss er mir sagen? »Ich muss morgen abreisen«, platzt Elios heraus. Gleichzeitig verschlucke ich mich an meiner Sangria und beisse in die saure Orange. Tränen treten mir vor lauter Husten in die Augen. Was? »Wie…Warum?«, frage ich, nachdem ich mir die Tränen aus den Augen getrocknet habe. »Das kann ich dir jetzt nicht sagen, aber ich verspreche dir, es hat nichts mit dir zu tun.« Na, das beruhigt mich. Nicht. Und warum kann er es mir nicht sagen, wenn es nichts mit mir, mit uns zu tun hat? »Vertraust du mir nicht?«, frage ich und merke, wie mich die Unsicherheit wieder besucht. Das Gefühl, allein gelassen zu werden. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Ich schiebe meinen Teller von mir weg und trinke meine Sangria mit einem Schluck aus. »Doch natürlich. Aber wenn ich dir sage, dass das nichts mit uns zu tun hat, dann ist das auch so.« Sein ernster Ton lässt mich zusammenzucken. Wo ist der fröhliche Elios, der mich mit einem Anblick sofort zum Strahlen bringt und sein Lachen meine Lieblingsmelodie ist. Was ist in dieser kurzen Zeit passiert? »Warum kannst du mir nicht sagen, was los ist? Vielleicht kann ich dir helfen.« »Ich brauche deine Hilfe nicht. Ich brauche von niemandem Hilfe. Ich muss das allein klären.« Sein Handy vibriert erneut. Er lässt sein Besteck auf den Teller fallen und verschwindet vom Restaurant, ohne ein Wort zu sagen. Reglos bleibe ich stehen und versuche zu verarbeiten, was soeben passiert ist. Warum verhält er sich so mir gegenüber? Was ist passiert? Ich versuche daran zu denken, wie wir vor ein paar Stunden noch lachend und händchenhaltend die Zeit miteinander verbracht haben. Tränen treten mir in die Augen, und diesmal liegt es nicht an der Sangria. Ich bezahle unser Essen und verlasse das Restaurant. Vor dem Restaurant höre ich seine laute Stimme. Er ist noch immer am Telefon. Würde ich doch bloss Griechisch verstehen… Doch dann höre ich ihn ein Wort sagen, und ich erstarre: Louloudi mou. Und das hat er nicht zu mir gesagt. Meine Blume, so nennt er mich immer. Wen sonst sollte er noch so nennen? Wer könnte sonst noch seine Blume sein? Schauder läuft mir über den Rücken, und allmählich verliere ich meine Geduld. Er fährt sich mit der Hand durch die wilden Locken und als sich unsere Blicke treffen, hält er inne. Er hat mich nicht gesehen, er weiss nicht, dass ich schon die ganze Zeit hier stehe und ihn beobachtet habe. Doch er weiss genau, was ich gehört habe. Louloudi mou. »Wer ist sie?«, frage ich mit einer Schärfe in der Stimme, die ich von mir selbst nicht kenne. »Ayla, das ist nicht das, was du denkst.« »Dann erkläre es mir!« »Du wirst es nicht verstehen.« Elios kommt auf mich zu, doch ich weiche zurück. Ich beisse mir in die Innenseite meiner Wangen, um meine Tränen zu unterdrücken. »Warum kannst du mit mir nicht darüber reden?« Keine Antwort. Ich versuche den Knoten zu ignorieren, welcher sich in meiner Brust bildet. Den Kampf gegen die Tränen habe ich verloren. Ich senke den Kopf und laufe zurück Richtung Wagen. Ich höre keine Schritte hinter mir.
Es sind fünfzehn Minuten vergangen, als sich Elios endlich blicken lässt. Wortlos steigt er in den Wagen ein und startet den Motor. Ich richte meinen Blick zum Fenster und schlucke die Leere herunter, die sich in mir breit gemacht hat. Was verheimlicht er mir? Wie kann etwas, was so schön angefangen hat, so hässlich enden? Die ganze Fahrt über sprechen wir kein Wort. Als wir endlich im Hotel ankommen, stürzt sich Elios auf seinen Koffer und packt seine Sachen. Ich lege mich erschöpft ins Bett. Die Gedankenmonster schleichen sich in meinen Kopf herum, und ich kann nicht anders als daran zu denken, wie Elios die letzten drei Stunden zu mir war. Ich möchte ihn nochmals fragen, was los ist. Will ihn darum bitten, mit mir darüber zu reden. Will ihm sagen, dass er mir vertrauen kann. Doch die Angst vor seiner Abweisung ist zu gross. Wird er mir die Wahrheit sagen? Vielleicht liegt es doch an mir. Vielleicht bin ich der Grund, warum er sich so verhält. Ich haben ihn noch nie so wütend, so verzweifelt erlebt. Was verheimlicht er mir? Irgendwann kommt auch Elios ins Bett und ich höre, wie er leise meinen Namen ruft. Ich will etwas sagen, doch jedes Wort auf meiner Zunge fühlt sich falsch an. Insgeheim hoffe ich, dass er mich in seine Arme nimmt, mich an seinen warmen Körper zieht, und mir alles erzählt. Doch stattdessen flüstert er mir ein leises »es tut mir leid« in mein Ohr, und dreht sich um.
Fortsetzung folgt...
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