
Ich glaube heute ist es so weit. Ich habe ein gutes Gefühl. Heute werden Leon und ich endlich zusammenkommen. Nach monatelangem Kennenlernen, Austauschen von Millionen Nachrichten und gemeinsam erlebter Zeit, ist es heute bestimmt so weit. Die Schmetterlinge in meinem Bauch sprechen für sich. So lange habe ich mich nach all dem gesehnt, was Leon in mir auslöst. Ein Kribbeln in meiner Magengegend, ein wohliges Gefühl und vor allem die Leichtigkeit, die ich nur verspüre, wenn wir zusammen sind. Ich vergesse mit ihm die Zeit, weil ich nichts anderes sehen und hören will als sein Lachen. Dieses Lachen. Einzigartig und wunderschön. In seine Grübchen habe ich mich als erstes verliebt. Wenn er lacht, dann kommen sie besonders zur Geltung. Ganz zu schweigen von seinen dunkelgrünen Augen. Als würde er ein dunkles Geheimnis mit sich tragen, welches niemand je enthüllen sollte. Seine Hände die perfekt zu meinen passen, als wären sie füreinander gemacht. Seine kratzige Stimme, wenn er mir »guten Morgen« ins Ohr flüstert. Sein langes blondes Haar, welches er immer zusammennimmt, ausser wenn wir allein sind. »Bei dir kann ich ich sein«, sagt er immer, während ich mit seinen Haaren spiele. Auch ich kann bei ihm ich sein. Ich brauche mich nicht zu verstellen, denn er sagt mir immer wieder, wie sehr er meine tollpatschige und sensible Art mag. Als wir zum ersten Mal zusammen einen Film geschaut haben und ich meine Tränen nicht unterdrücken konnte, nahm er mich liebevoll in den Arm. Er gibt mir das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Ein Gefühl, welches ich zuvor nie hatte. Ich liebe es, wie er mit seinen langen Fingern über mein Wolken Tattoo am Unterarm fährt. »Du bist für mich wie eine lila Wolke. Wunderschön und einzigartig. Du färbst alles um dich herum«, sagt er immer. Ich bin seine lila Wolke. Und heute wird es ganz offiziell: Ayla und Leon sind ein Paar.
Ich lese die gestrige Nachricht von Leon noch einmal durch, bevor ich einen letzten Blick in den Spiegel werfe und das Haus verlasse. »Lass uns morgen über unsere Geschichte reden.« Unsere Geschichte. Leons Herz schlägt für Poesie und ich liebe die Art, wie er die Dinge sieht. Unsere Geschichte hat erst begonnen. Ich steige in das 13er Tram und fahre bis zum Paradeplatz. Die Sonne strahlt in voller Pracht und auf allen Gesichtern der Passanten sitzt ein Lächeln. Oder vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, weil ich vor lauter Glück nicht aufhören kann zu lächeln. Es ist Samstag und in der Stadt herrscht Trubel; Passanten in jeder Grösse und Form huschen durch die berühmte Einkaufsstrasse der Stadt Zürich. Tramfahrer, die sich beim Vorbeifahren zuwinken und am Paradeplatz verweilen die meisten auf den Aussensitzplätzen der Restaurants und lassen sich ein Glas Wein schmecken. Die Stadt lebt.
Am Paradeplatz angekommen steige ich aus und sofort blicke ich in diese geheimnisvollen Augen. Wir begrüssen uns und obwohl Leon mich in den Arm nimmt, fühlt es sich seltsam an. Distanzierter als sonst. Ich verdränge den Gedanken und greife nach seiner Hand. Wir laufen die Talstrasse entlang zum alten botanischen Garten. Dort sind wir uns zum ersten Mal begegnet und dieser Ort hat mittlerweile was Magisches an sich. Hier hat unsere Geschichte angefangen. Leon erzählt mir von seinem gestrigen Abend mit seinen Jungs und ich höre ihm aufmerksam zu. Vor einer Bank bleiben wir stehen und bevor wir uns setzen, löst er sich von meiner Hand und fährt sich über die Haare. Eine Geste, die er nur macht, wenn er nervös ist. Seine Haare hat er zusammengebunden, obwohl er sie mit mir sonst immer offen trägt. Er weiss genau, wie sehr ich das mag. Ich kann nicht sagen, woran es liegt, aber etwas in seinen Augen ist anders. Das Grün in seinen Augen ist heute dunkler als sonst. Geheimnisvoller. Als hätte er etwas zu verbergen. Er schaut mich nicht an, während er spricht:
»Ich will mit dir heute über uns reden.« Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Ja. Ja. Ja. Ich will uns.
»Worum geht es denn?«, ich kann die Antwort kaum abwarten.
»Ich habe mir lange Gedanken darüber gemacht. Schon fast zu lange. Das mit uns hat sich immer richtig angefühlt und obwohl ich mir anfangs sicher war, haben sich meine Gefühle zu dir mittlerweile geändert.« Leon schaut mich an und ich erkenne seine weichen Augen nicht wieder. Panik macht sich in mir breit. Bevor er weiterfährt, räuspert er sich.
»Wie du weisst bin ich noch mitten im Studium und ich kann es mir nicht leisten, mich von dir ablenken zu lassen.« Ablenken? Ich bin für ihn also eine Ablenkung? Die Luft zwischen uns wird immer dicker. »Ich möchte mich wieder vollkommen auf das Studium konzentrieren. Ausserdem steht schon bald der Sommer vor der Tür und ich will diese Zeit nutzen, um für mich im Klaren zu entscheiden, was ich aus meiner Zukunft machen will.« Leon atmet tief aus und es kommt mir vor, als hätte er diese Worte schon zu lange für sich behalten. Ich fasse es nicht. Wie konnte ich das nicht bemerkt haben? War ich so blind gewesen? Haben mich die Schmetterlinge in meinen Bauch nur reingelegt?
»Aber… wieso?«, mehr bringe ich nicht raus.
»Hör zu Ayla, das hat überhaupt nichts mit dir zu tun. Ich glaube einfach, dass der Zeitpunkt nicht stimmt. So ist das manchmal. Einige Geschichten sind halt kürzer als andere.« Fassungslos schaue ich ihn an. Unsere Geschichte hat doch erst begonnen. Wie vor den Kopf gestossen blicke ich in dieses geheimnisvolle Grün seiner Augen. Ich zucke zusammen als ich seine Finger auf meinem Unterarm spüre. »Lila Wolken sind dafür da, um weiterzuziehen.«
Ich schliesse die Tür hinter mir und werfe mich aufs Bett. Die Tränen rennen um ihr Leben über meine Wangen, ich wische sie mit dem Handrücken weg und starre zur Decke. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so leer gefühlt wie in diesem Moment. So fühlt sich also ein gebrochenes Herz an. Doch mein Herz ist nicht gebrochen. Schlimmer noch. Es ist in Millionen von kleinen Stücken zerrissen worden. So klein, dass man sie nicht wieder zusammensetzen kann. Ich öffne die Kalender-App auf meinem Handy, um alle eingetragenen Termine von Leon und mir zu löschen. Ich blättere die nächsten paar Monate im Kalender durch, um sicher zu gehen, dass ich auch alle Einträge gelöscht habe und stosse dabei auf einen Eintrag, den ich beinahe vergessen hätte: 15.07. bis 23.07. Zakynthos mit Patrizia. Abrupt setze ich mich auf. Die Ferien! Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Patrizia, meine beste Freundin und ich planen schon seit über drei Jahren eine Woche gemeinsamen Urlaub im Jahr. Dieses Jahr fiel die Wahl auf Zakynthos, eine griechische Insel, welche wir beide noch nie besucht haben. Vor lauter Leon-Gedanken habe ich gar nicht mehr an die Ferien gedacht. In zwei Monaten ist es so weit. Am liebsten würde ich alles absagen. Wie kann ich mit so einem gebrochenen Herzen noch irgendetwas tun, was ansatzweise Spass macht? Auf der anderen Seite denke ich mir, würde es mir eigentlich ganz guttun. Ablenkung. Sofort muss ich wieder an Leon denken. War ich das für ihn? Patrizia war noch nie ein Fan von Leon gewesen. »Dieser Surfer Typ mit seinen langen blonden Haaren kann doch nichts Ernstes wollen.« Was wusste sie schon, dachte ich damals. Doch sie hatte Recht. Sie hatte die ganze Zeit Recht gehabt.
Fortsetzung folgt...
Comments